21.04.2021
Kiwa: „Wir machen Produkte sicherer“
Nachhaltigkeit, Standsicherheit, Wohngesundheit, Schall – es sind unheimlich spannende Themen, mit denen sich Kiwa als Dienstleister beschäftigt. FussbodenTechnik stellt an dieser Stelle ein Unternehmen vor, das in Deutschland 16 Standorte unterhält und in letzter Konsequenz Produkte sicherer macht. Im Interview geben Dr. Roland Augustin (Standortleiter Flörsheim) und Dr. Ronny Stadie (Standortleiter Berlin) spannende Einblicke in ihre vielfältige Tätigkeit.
FussbodenTechnik: Viele Leser werden es vielleicht (noch) nicht wissen: Was ist Kiwa?
Dr. Roland Augustin: Kiwa, das sind Prüfnstitute mit angeschlossenen Laboren, das sich mit der Prüfung von Materialien beschäftigt, um deren Standsicherheit und ihre Sicherheit generell zu bewerten. Unsere Tätigkeiten sind: prüfen, inspizieren und zertifizieren.
Dr. Ronny Stadie: Wir sind ein niederländisches Unternehmen mit weltweit mehr als 5.500 Mitarbeitern in 35 Ländern und 16 Standorten in Deutschland. Wir beschäftigen uns mit Bauprodukten, aber auch mit vielen anderen Produkten und Dienstleistungen in Bezug auf Prüfung, Inspektion und Zertifizierung. In Deutschland sind die Beratung in Bezug auf Bauprodukte und die Bauwerksdiagnostik bis hin zu gutachterlichen Stellungnahmen weitere Schwerpunkte.
FT: Kiwa ist mit seinen Dienstleistungen sehr breit aufgestellt. Können Sie vielleicht ein Beispiel aus dem Segment Boden nennen?
Dr. Augustin: Wenn man den Boden betrachtet, kann man ganz unten mit den Abdichtungen anfangen. Es folgen die mineralischen Materialien wie Beton und Estrich. Darüber hinaus geht es um Bodenbeschichtungen, die an der Oberfläche den Abschluss bilden. Das heißt, wir betrachten den kompletten Fußbodenaufbau.
Dr. Stadie: Als Kiwa decken wir einerseits den bauordnungsrechtlichen Rahmen ab in Bezug auf Prüfen, Überwachen und Zertifizieren, andererseits folgen wir dem Performance-Ansatz der Produkte: Wir überprüfen, was die Produkte leisten und wo ihre Grenzen sind.
FT: Was unterscheidet Kiwa von einer Materialprüfungsanstalt?
Dr. Augustin: Einige unserer Standorte sind historisch tatsächlich aus Materialprüfungsanstalten hervorgegangen. Von ihnen unterscheidet uns, dass wir häufig schneller in den Prüfungen und serviceorientierter sind, das ist meine Erfahrung. Wir kümmern uns intensiv um die Kunden und sind nicht ausschließlich auf eine Prüfung fokussiert.
Dr. Stadie: Unser Berliner Standort trägt das Materialprüfungsamt sogar im Namen. Daran erkennt man die Historie. Wir sind als Kiwa deutlich breiter aufgestellt, weil wir auf das Equipment und das Know-how in diversen Standorten zugreifen können. Dadurch, dass wir in den Niederlanden den Status einer TAB-Stelle haben – das heißt wir sitzen bei der EOTA (die Stelle, die europäisch technische Bewertungen vergibt, d. Redaktion) – haben wir einen Stellenwert, der weit über den einer Materialprüfungsanstalt hinausgeht. Wir haben quasi den Status eines Deutschen Instituts für Bautechnik (DIBt) auf europäischer Ebene.
FT: Sie arbeiten auch mit den bekannten deutschen Bauchemieherstellern zusammen. An welchem Punkt kann die Industrie ihre Prüfungen nicht mehr eigenständig leisten?
Dr. Augustin: Das ist abhängig von den Regelwerken und den Märkten, in denen die Unternehmen tätig sind. Es gibt viele Prüfungen, die die Hersteller in ihren eigenen Laboren durchführen. Sie müssen aber für ihre Produkte eine Erstzulassung und -prüfung vorweisen. Und genau diese Erstprüfungen, aber auch Regelprüfungen und Fremdüberwachungen, übernehmen wir. Sie können bei uns den kompletten Service für die Prüfung, Überwachung und Zertifizierung der Produkte einkaufen.
Dr. Stadie: Viele Prüfungen sind so komplex, dass Hersteller sie nicht abdecken können. Es gibt bauordnungsrechtlich ein System, das eine Unabhängigkeit sicherstellt. In diesem Fall kommen wir als Dienstleister zum Tragen. Manche Prüfungen sind sehr speziell, wie eine dynamische Rissüberbrückung, eine Temperatur-Wechsellagerung oder auch eine UV-Lagerung. Wir haben das entsprechende Know-how und die Kompetenz, beides wird von den Herstellern dankend angenommen.
FT: Ist der Beratungsbedarf in den vergangenen Jahren gestiegen?
Dr. Stadie: Die Baustoffe sind tatsächlich komplizierter geworden sind. Wir nutzen deshalb interdisziplinäre Ansätze, in denen unsere Ingenieure, Chemiker, Geologen und Mineralogen ihr Wissen zusammenführen und gemeinsam Diagnosen stellen. Das können Blasenbildungen, Abblätterungen oder auch Vergilbungen sein. Wir überprüfen auch, ob man die Belastung eines Produkts im Vorfeld simulieren kann. Wir machen Aussagen sowohl vorwärts- als auch rückwärtsgewandt im Sinne der Schadensbildung. Aber auch vorwärtsgewandt hinsichtlich der Performance: Was leisten die Systeme? Welche Dauerhaftigkeit haben die Systeme?
FT: Neben der produktherstellenden Industrie sind Ihre Kunden auch Sachverständige und Verarbeitungsbetriebe wie Beschichter, die eine Hilfestellung benötigen. Was ist ein typischer Auftrag?
Dr. Augustin: Es kommt vor, das uns Beschichter gemeinsam mit einem Bauchemiehersteller befragen, weil es beim Aufbringen einer Beschichtung Probleme gab. Wir analysieren Proben, um die Ursachen zu finden. Das kann beispielsweise ein Mischfehler oder vielleicht ein Vernetzungsfehler sein.
FT: Kann ein Sachverständiger eine solche Untersuchung im Rahmen einer gerichtlichen Fragestellung finanziell bewältigen?
Dr. Augustin: Für Sachverständige ist es immer zielführend, wenn es möglichst um konkrete Fragen geht. Wir müssen wissen, in welche Richtung die Prüfung gehen soll. Wir klären den Kostenrahmen der Sachverständigen im Vorfeld ab. Gerade vor Gericht gibt es ein gewisses Budget, das der Sachverständige ausgeben darf. In einem solchen Fall ist die enge Absprache essentiell.
FT: Es gibt bei Kiwa Themenfelder, die standortübergreifend bearbeitet werden, z. B. Europäische technische Bewertungen (ETAs), Nachhaltigkeit, Bauphysik und Wohngesundheit. Worum geht es dabei?
Dr. Stadie: Starten wir mit der ETA. Kiwa hat den Status auf europäischer Ebene, dass wir innovative Produkte „zulassen“ dürfen. Diese Produkte regeln wir auf bestimmte Art, beschreiben sie und setzen spezifische Anforderungen. Es ist sehr attraktiv für Produkthersteller, um schnell in den Markt zu kommen und einen bauordnungsrechtlichen Rahmen für diese Produkte stellen zu können.
Kommen wir zur Nachhaltigkeit. Unsere Nachhaltigkeitsexperten kombinieren Praxis und Visionen mit dem Ziel, durch nachhaltiges Wirtschaften einen Mehrwert für Unternehmen zu generieren. Das breite Portfolio reicht von der Quantifizierung von Umweltwirkungen in Form der Ökobilanz bis hin zur Bewertung, Verifizierung und Kommunikation der Nachhaltigkeit der Produkte. Dabei bindet Kiwa auch seine Expertise bei der Produktprüfung, -überwachung und -zertifizierung als einer der größten Anbieter dieser Art ein.
Um die steigende Nachfrage nach Umweltdaten in Form von Umweltproduktdeklarationen (EPD) effizient bearbeiten zu können, hat Kiwa mit Partnern die EPD-Softwarelösung Rethink entwickelt. Diese ermöglicht es, Ökobilanzen und EPDs normenkonform und eigenständig zu bearbeiten.
Dr. Augustin: Bei der Wohngesundheit geht es um eine ganzheitliche Betrachtung, beginnend mit Asbest in Magnesiaestrichen im Industriebereich und Dichtungen, aber auch die klassischen Komponenten, wie PAK, PCB und Holzschutzmittel. Spannend werden diese Projekte dann, wenn plötzlich neue Gegebenheiten auftauchen, z. B. eine Tiefgarage, die ursprünglich als Bunkeranlage konzipiert war.
FT: Bei den Beschichtungen bieten Sie ja auch spezielle Tests für die Parkhausbeschichtungen OS 8 und OS 11 an. Mögen Sie erläutern, was Kiwa dabei macht?
Dr. Augustin: Für die Parkhausbeschichtungen, egal ob starr (OS8 und OS13) oder flexibel (OS 11a/b und OS 14), prüft Kiwa gemäß den aktuell geltenden Anforderungen und darüber hinaus. Kiwa arbeitet an praxisorientierten Systemen, wie dem sog. PAT-Tester (Parking Abraison Tester), mit dem das Abriebverhalten von Autoreifen auf Parkhausbeschichtungen real geprüft und so die Performance direkt und vergleichend bewertet werden kann. Durch das leicht kippbare System kann Kiwa das Verhalten auf Rampen deutlich besser simulieren.
FT: Ich würde auch gerne auf den Aspekt Schall kommen. Wir haben ja bereits eine Serie mit Prof. Alexander Siebel in FussbodenTechnik veröffentlicht. Was kann Kiwa in Sachen Schall leisten?
Dr. Augustin: Wir können bei der Schallmessung sehr viel leisten. Durch das Soundlabor in Aachen wird zudem der Innenraum und hier die Bauphysik stärker in den Fokus genommen. Wir führen Laborprüfungen zum Luftschall, zum Trittschall und zur Schallübertragung durch. Wobei gerade beim Trittschall nicht nur Einzelkomponenten, sondern auch komplette Testaufbauten geprüft werden – inklusive Dämmung, Estrich, Bodenbelag und Fußbodenheizung.
Es werden auch Messungen vor Ort durchgeführt, bei denen schalltechnische Probleme eine Rolle spielen. Dies gilt insbesondere beim Umbau von Gewerbeimmobilien oder Schallbrücken in Neubauten. Schallreduktion und Lärmminderung gewinnen in den letzten Jahren erheblich an Bedeutung. Hier gibt es noch großes Potential. Das Soundlabor in Aachen ist seit 1. Januar 2021 Bestandteil von Kiwa.
FT: Wie sieht die Zukunft von Kiwa aus? Wo wollen Sie in drei oder in fünf Jahren stehen?
Dr. Stadie: Wir wollen als Kiwa ganzheitlich Bauwerke und Bauprodukte betrachten und bewerten. Mit der ganzen Bandbreite von den Performanceprüfungen über den bauaufsichtlichen Rahmen, Brandprüfungen, Akustik usw. Wir wollen dem Markt und der Gesellschaft Qualität und Sicherheit vermitteln. Themen wie die Nachhaltigkeit wollen wir federführend im Bauwesen einführen und dort Leitlinien setzen.
Dr. Augustin: Die soziale Verantwortung im Bau zu sehen und auch die nachhaltigen Aspekte einzubringen, sind für uns sehr wichtige Punkte. Wir haben bei Kiwa viele junge Mitarbeiter, die diese Werte auch einfordern. Der gesellschaftliche Wandel kommt auch bei Prüfinstituten an. Wir wollen die Produkte ganz allgemein gesprochen sicherer machen, das ist für uns eine zentrale Aussage.
Was ist Kiwa?
Die Kiwa ist eine der 20 weltweit führenden Anbieter für Testen, Inspizieren und Zertifizieren. Mit ihren Services in den Bereichen Zertifizierung, Prüfung, Inspizieren, Schulung über die Kiwa Academy, Technologie und Nachhaltigkeit schafft die Kiwa Vertrauen in die Produkte, Dienstleistungen, Verfahren, Managementsysteme und Mitarbeitern ihrer Kunden. Der Name „Kiwa“ geht zurück auf „Keuringsinstitut voor Waterleidingsartikelen“ - Schwerpunkte waren früher Bauwerke rund ums Wasser, deshalb auch der Biber im Logo.
Die Märkte, in denen die Kiwa aktiv ist, reichen vom Baugewerbe und der Energieversorgung bis hin zum Trinkwasser, Gesundheitswesen, zu Lebensmitteln, Futtermitteln und zur Landwirtschaft. Zu unseren Fachgebieten gehören unter anderem Managementsysteme, Corporate Social Responsibility und Laborprüfungen. Kiwa beschäftigt weltweit mehr als 5.500 Mitarbeitern in über 35 Ländern, hauptsächlich in Europa, Asien und Lateinamerika. In Deutschland sind etwa 400 Mitarbeiter für die Kiwa Gruppe Deutschland an 16 Standorten tätig.
Vita Dr. Roland Augustin
Der staatlich geprüfte Lebensmittelchemiker Dr. Roland Augustin promovierte im Jahr 1990. Mitte der 1990er-Jahre übernahm er die Abteilungsleitung im Teppichforschungsinstitut (TFI). Von 2008 bis 2014 hatte er die Leitung der Überwachungs -und Zertifizierungsstelle nach Landesbauordnung für den Gesundheitsschutz bei Eurofins inne. Aufgrund seiner Tätigkeit bei TFI, als Geschäftsführer des Instituts für Baustoffprüfung und Fußbodenforschung (IBF) und als freier Sachverständiger besitzt Dr. Augustin eine umfangreiche Expertise im Bereich Fußboden, Schadstoffe und Schadensfälle. Er kam 2018 zu Kiwa am Standort Flörsheim-Wicker in Hessen. Seit April 2019 hat er gemeinsam mit Nicole Machill die Standortleitung inne.
Vita Dr. Ronny Stadie
Der seit 2007 promovierte Bauingenieur Dr. Ronny Stadie ist seit 13 Jahren für Kiwa tätig. Seit acht Jahren leitet er den Berliner Standort der Kiwa, die Materialprüfanstalt (MPA) Berlin-Brandenburg. Sein Schwerpunkt ist das Prüfen, Überwachen und Zertifizieren von Bauprodukten verschiedener Anwendungsbereiche und die damit verbundenen europäischen und nationalen bauordnungsrechtlichen Regelungen. Ein besonderer Fokus liegt auf den zunehmenden Anforderungen des nachhaltigen Bauens bzw. der nachhaltigen Nutzung von Bauwerken. Mit dem Ziel, Wege und Lösungen für nachhaltigere Bauprodukte und -weisen zu entwickeln, zu fördern und zu zertifizieren.
Der FussbodenTechnik-Newsletter: Hier kostenlos anmelden